In den 1970er Jahren begann die Abkehr von „Tante Emma“ und der „Run“ auf die modernen Supermärkte mit immer größerer Angebots-Vielfalt und immer größer werdender Verkaufsfläche. Die „Geiz ist geil“-Welle trieb die Verbraucher zu den Discountern – mit der Folge, das „Tante Emma“ aus den Dörfern und Stadtteilen verschwand und die Entfernung zum Einkaufen immer größer wurde. Nicht nur im peripheren ländlichen Raum, sondern auch im „Speckgürtel“ um Oberzentren wie Hannover. Die Region Hannover (eine Art „Groß-Landkreis“ mit 1,1 Millionen Einwohnern) machte sich jetzt auf die Suche nach Wohnort-naher Versorgung mit Lebensmitteln und Artikeln des täglichen Bedarfs. „Wo geht´s hier zu Tante Emma“ war der Titel der Veranstaltung am Dienstag, 5. November 2013 in Hannovers Innenstadt – und gut 120 Kommunalpolitiker, Bürgermeister und engagierte Einwohner machten sich auf den Weg zu „Tante Emma 2.0“, den modernen Nahversorgern und Dienstleistern.
Nach der Begrüßung der etwa 120 interessierten Zuhörer durch Prof. Dr. Axel Priebs, Erster Regionsrat der Region Hannover hielt Prof. Dr. Axel Priebs, Erster Regionsrat und Dezernent für Umwelt, Planung, Bauen der Region Hannover einen einleitenden Vortrag mit dem Thema „Wo gehts hier zu Tante Emma? Neue Konzepte für die Nahversorgung. Prof. Dr. Priebs referierte über
- die klassische Nahversorgung
- neue Trends in Gesellschaft und Einzelhandel
- die „Verkaufsflächen-Explosion (und -sättigung?)“
- Besondere Probleme in kleinen Städten und Dorfläden
- eine Kampagne zur Rettung der Dorfläden in Dänemark in den 1980er Jahren durch Zusatzfunktionen
- die Integration der 1. Post-Agentur in einem Lebensmittelladen in Schleswig-Holstein
- Drei Jahrzehnte Niedergang und örtliche Initiativen
und hinterfragte ein Umdenken bei Handelsketten, Kommunen und Verbrauchern.
Mit Professionalität könnten auch Bürger-Dorfläden als Selbsthilfeeinrichtungen erfolgreich geführt werden betonte Prof. Dr. Axel Priebs, der Fehlentwicklungen bei der Ansiedlung von Discountern und Supermärkten an den Ortsrändern und in Gewerbegebieten analysierte. Zunehmend werde jetzt „der Wert des Lebensmittelmarktes in der Ortsmitte erkannt“. Prof. Dr. Priebs empfahl differenzierte Konzepte zur Nahversorgung für Dörfer, Stadtteile, innerstädtische Lagen und Büro-Standorte.
Im 2. Vortrag mit dem Titel „Tante Emmas kecke Töchter“ berichtete anschließend Günter Lühning, 1. Vorsitzender des Bürger-Dorfladens in Otersen (Landkreis Verden) und Sprecher des Dorfladen-Netzwerkes über seine mehr als 12-jährigen Erfahrungen mit der Führung eines „Dorfladens – von Bürgern für Bürger“. Der am 1.4.2001 eröffnete Dorfladen bietet auf 180 qm Verkaufsfläche 2.700 Artikeln des täglichen Bedarfs sowie Dienstleistungen und Service und ein 70 qm großes DorfCafé gleich neben dem Dorfladen stellt einen sozialen Treffpunkt dar. Der 145 Mitglieder zählende wirtschaftliche Verein (w.V.) sichere die Nahversorgung und damit die Lebensqualität für die gut 500 Einwohner in Otersen, 12 km südlich der Kreisstadt Verden (Aller).
Lühning berichtete über die Erfahrungen von Bürger-Dorfläden aus Niedersachsen und Bayern, über den Trend „Eigeninitiative statt Unterversorgung“, über wirtschaftliche Eckdaten und Erfolgskonzepte für von Bürgergesellschaften oder Vereinen geführten Dorfläden. Als Sprecher des Dorfladen-Netzwerkes empfahl Lühning Interessengruppen aus der Region Hannover das über 200-seitige Dorfladen-Handbuch mit Konzepten, Erfahrungen und Problemlösungen, das Internetportal www.dorfladen-netzwerk.de als Informationsquelle und die Wissenstransferstelle beim Dorfladen in Otersen mit der Möglichkeit zur Dorfladen-Besichtigung, zu Vorträgen und intensiverem Dialog.
Bei der anschließenden Podiumsdiskussion diskutierten:
- Carl Jürgen Lehrke, Bürgermeister der Stadt Sehnde,
- Jochen Pardey, Vorsitzender des Vereins „Bürger für Resse“,
- Ingrid Heineking, Leibniz Universität Hannover,
- Heino Schmidt, Geschäftsführung EDEKA-MIHA Immobilien-Service GmbH
- Günter Lühning, Vorsitzender Dorfladen Otersen w.V. und Sprecher Dorfladen-Netzwerk
- Prof. Dr. Axel Priebs, Region Hannover
Moderiert wurde die Veranstaltung von Conrad von Meding, Redakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ)
Edeka-Manager: „Nähe schlägt Größe“
Carl Jürgen Lehrke, Bürgermeister der 23.000 Einwohner zählenden Stadt Sehnde mit insgesamt 15 Ortsteilen berichtete über die Situation und Bedeutung der Nahversorgung in Sehnde. In nur 3 Ortsteilen gebe es noch ein Lebensmittelgeschäft. Im 1.275 Einwohner zählenden Ortsteil Bolzum sei kürzlich gerade eine Initiative zur Gründung eines Bürger-Dorfladens gestartet worden.
Ingrid Heineking von der Uni Hannover berichtete über ihre Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt „ZukunftNah“ – Zukunftschancen bedarfsgerechter Nahversorgung in ländlichen Räumen Niedersachsens
Jochen Pardey berichtete über das erfolgreiche Bürgerengagement in Resse, einem Ortsteil mit über 2.400 Einwohnern in der Gemeinde Wedemark nördlich von Hannover. Gut 500 Bürger seien im Verein „Bürger für Resse“ (www.buerger-fuer-resse.de) organisiert und rund 100 Bürger hätten mit über 300.000 € Eigenkapital zuzüglich Darlehen einen 650 qm großen Supermarkt errichtet und an einen Betreiber verpachtet. Die engagierten Bürger hätten die ärztliche Versorgung gesichert und das Moor-Informationszentrum errichtet. Nächstes Projekt seien Senioren-gerechte Wohnungen. Weitere Informationen zu Resse im Internet
Heino Schmidt, bei der Edeka für die Expansion zuständiger Manager betonte gleich in seinem 1. Statement auf eine Frage des HAZ-Journalisten Conrad von Meding, „Nähe schlägt Größe“ und unterstrich damit, das nahegelegene kleine Läden gute Chancen im Vergleich zu den weiter entfernten großen Supermärkten und Discountern hätten. Schmidt ergänzte, dass es einen Wandel bei den Verbrauchern gebe. Lebensmittel-Qualität und Genuss gewinnen an Bedeutung – „Geiz ist geil“ stünde nicht mehr im Vordergrund.