6.12.2000: Start als Dorfladen-Pionier

2000_Dorfladen_2010Vor 10 Jahren – am Nikolaus-Tag 2000 wurde im 500 Einwohner-Dorf Otersen (Niedersachsen) in einer Bürgerversammlung die Dorfladen-Bürgergesellschaft mit über 60 Gesellschaftern und 103.000 DM Eigenkapital gegründet. Damals gehörten die Niedersachsen zu den „Dorfladen-Pionieren“, wurden vielfach belächelt und die Idee zur bürgerschaftlichen Sicherung der Nahversorgung wurde sicherlich mehrfach als „spinnerte Idee“ bezeichnet. Heute investiert der 100 Mitglieder zählende Dorfladen w.V. 440.000 Euro und baut einen neuen Dorfladen mit Mehrgenerationen-Dorfcafé.

Der „Dorfladen – von Bürgern für Bürger“ gilt inzwischen als Modellprojekt im ländlichen Raum und immer mehr Bürger-Initiativen, Landräte, Bürgermeister und Journalisten informieren sich in Otersen, das 2007 auch aufgrund seines Bürger-Engagements und seiner „Experimentierfreudigkeit“ unter 3.900 teilnehmenden Dörfern zum Bundessieger und Golddorf im Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ gekürt wurde.

In den beiden Dörfern Otersen und Wittlohe gab es früher 4 Lebensmittelgeschäfte – 1 Geschäft in Wittlohe gleich gegenüber der Kirche und 3 Geschäfte in Otersen. In den 1970er und 1980er Jahren wurden der kleine Laden im Hause der Familie Müller in der Dorfstraße und später der Landhandel mit kleinem Laden der Familie Pape in der Turmstraße in Otersen (heute: Rowohlt) geschlossen.

Kaufhaus günstig Holste Wittlohe machte dicht_Dezember 1989_web2

Zum Jahresende 1989 schloss das Kaufhaus Holste in Wittlohe für immer seine Türen und mit Lebensmittel Schlüter verblieb nur ein Nahversorger im Südteil der Gemeinde Kirchlinteln. Nach dem frühen Tod von Bäckermeister Fredy Schlüter kündigte Irene Schlüter aus Altersgründen im Frühjahr 2000 die Schließung des letzten Lebensmittelgeschäftes für das Jahresende 2000 an. Das rief die Bürger auf den Plan und unter der Leitung von Ratsmitglied Günter Lühning wurde ein Arbeitskreis gegründet. Zunächst bemühte sich der Arbeitskreis um einen professionellen Nachfolger, der das Geschäft als Filialbetrieb fortführen könnte – leider ohne Erfolg. Informationsbesuche beim „Lintler Laden“ in Bendingbostel und bei den Dorfläden in Bierde und Unterstedt in den Landkreisen Rotenburg und Soltau-Fallingbostel folgten. Im Laufe des Jahres 2000 entwickelte der Arbeitskreis mit Einwohnern aus Otersen und Wittlohe dann ein eigenes Dorfladen-Konzept nach dem Motto „Wir machen das selbst“. Die Alternative wären der Verlust von Infrastruktur und Lebensqualität vor Ort gewesen, denn bis zum nächsten Bäcker wären es 8 Kilometer und bis zum nächsten Supermarkt 15 Kilometer gewesen.

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Zwei Bürgerversammlungen wurden in 2000 mit großer Bürgerbeteiligung durchgeführt bevor es dann am 6. Dezember 2000 in der Gründungsversammlung zum „Schwur“ kommen sollte. Ein Verdener Notar beantwortete rechtliche Fragen und begleitete die Gründung. Günter Lühning stellte am Nikolaustag 2000 das Konzept für einen „Dorfladen – von Bürgern für Bürger“ vor. Um den Kosten- und Finanzierungsplan einhalten zu können, war es das Ziel, mindestens 70.000 DM von den Bürgern aus den Dörfern als Eigenkapital einzuwerben. Damit lag die Hürde sehr hoch und Günter Lühning machte deutlich: „Wenn wir die Summe nicht schaffen, ist der Rückhalt in der Bevölkerung nicht groß genug“. Noch am Gründungsabend wurde deutlich: Der Rückhalt in der Bevölkerung war größer als gedacht. Fast 70 Gesellschafter brachten 103.000 DM statt 70.000 DM Eigenkapital auf. Mit so viel Kapital „von Bürgern für Bürger“ im Nikolaus-Stiefel gelang am Nikolaustag 2000 ein finanziell tragfähiges Fundament. Die Gründungsversammlung wurde zur Sternstunde des Bürger-Engagements. Während der Gründungsversammlung wurden Edith Pape, Bärbel Nowack und Bäckermeister Torsten Wöbse zu Geschäftsführern und Werner Blank und Günter Lühning als Beirat (Aufsichtsrat) gewählt.

SCHLüSSELüBERGABEkleinDie neu gegründete Bürgergesellschaft (GbRmbH) hatte nun etwas mehr als 3 Monate Zeit bis zur Schließung von Lebensmittel Schlüter und bis zur Neueröffnung des Dorfladens „von Bürgern für Bürger“. Am 1.4.2000 war es dann soweit: Im Rahmen eines Bürgerfestes mit „Tag der offenen Tür“ wurde nach vierwöchiger Laden-Modernisierung die Einweihung gefeiert. Beiratsmitglied Günter Lühning überreichte  den Verkäuferinnen zur Eröffnung einen symbolischen Schlüssel.  Auf 140 qm Verkaufsfläche in gemieteten Räumen werden seit dem 1.4.2000 Lebensmittel, Backwaren, Getränke, Fleisch- und Wurstwaren, Obst und Gemüse und Dienstleistungen angeboten. Von Beginn an gehörte auch eine Toto-Lotto-Agentur zum Angebot. Die Bürgergesellschaft ging neue Wege und öffnete für zwei Stunden auch an jedem Sonntag, um von 8.00 bis 10.00 Uhr frische Brötchen anzubieten.

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Nach anfänglichen Fehlern und dem „Bezahlen von Lehrgeld“ in Form von Verlusten wurde ein Sparprogramm realisiert, um den Bürger-Dorfladen nachhaltig absichern zu können. Unter anderem wurden die gebraucht gekauften Kühl-Regale und Tiefkühltruhen durch neue, Energie-sparende Kühlmöbel ersetzt. Neu in das Angebot aufgenommen wurde in Kooperation mit einer Landschlachterei in Party-Service. Im Dorfladen entstand eine Tourist-Infothek und neben Versandhaus-Agenturen wurde im Dorfladen ein Hermes-Paketshop eröffnet.

"Grundsteinlegung" für das Dorfladen-Netzwerk: MdL Wilhelm Hogrefe, Minister Hans-Heinrich Ehlen und Klaus Karweik vom Amt für Landentwicklung in Verden (v.l.)

"Grundsteinlegung" für das Dorfladen-Netzwerk

2004 wurde in Otersen in Gegenwart von Heiner Ehlen, dem Niedersächsischen Minister für den ländlichen Raum, MdL

Christian Wulff, Schirmherr des niedersächsischen Dorfladennetzwerkes

Christian Wulff

Hogrefe und Klaus Karweik vom Amt für Landentwicklung in Verden das Niedersächsische Dorfladen-Netzwerk gegründet. Die Schirmherrschaft für das Dorfladen-Netzwerk übernahm der langjährige Niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff, unserem heutigen Bundespräsidenten. Christian Wulff hatte unseren Dorfladen zuvor bereits persönlich besucht.

Länderspiegel2Jahr für Jahr wurden immer mehr Radio- und Fernseh-Sender und große deutsche Tageszeitungen auf unser großes Bürger-Engagement und unseren Bürger-Dorfladen aufmerksam. Neben vielen regionalen Zeitungen, dem NDR und Radio Bremen veröffentlichte die Frankfurter Rundschau 2006 eine fast ganzseitige Reportage und der ZDF-Länderspiegel strahlte 2006 einen fast 5-minütigen Bericht aus.

BIN-Förderung2006 wurde der Dorfladen Otersen von der Bundesaktion „Bürger initiieren Nachhaltigkeit“ (BIN) prämiert und vom Bundeskanzleramt und mehreren Bundesministerien ausgezeichnet.

Das Interesse am Konzept und an den Erfahrungen der Dorfladen-Bürgergesellschaft wurde immer größer. Immer mehr Bürgergruppen, Bürgermeister und auch Landräte informierten sich in Otersen und immer mehr Anfragen und Wünsche nach Vorträgen in Bürgerversammlungen in verschiedenen Bundesländern wurden an die Dorfladen-Bürgergesellschaft heran getragen. Ehrenamtlich war das kaum leistbar. Aus diesem Grund wurden das Konzept und der umfangreiche Erfahrungsschatz mit allen Problemen und möglichen Problemlösungen in einem „Dorfladen-Handbuch“ dokumentiert. Im Januar 2008 wurde das 1. Exemplar des Dorfladen-Handbuches, einem Ordner mit 200 Seiten bei der Internationalen Grünen Woche in Berlin von Vertretern des Bürger-Dorfladens Otersen an Minister Hans-Heinrich Ehlen überbreicht. Schnell war die 1. Auflage des Dorfladen-Handbuches vergriffen. Seitdem wird das Handbuch als PDF-Datei gegen eine Schutzgebühr von 30 Euro auf dieser Internetseite zum Herunterladen angeboten. Die Schutzgebühr finanziert dieses Internet-Portal zur bundesweiten Sicherung der Nahversorgung und wird von Otersen aus betrieben und aktualisiert. Im Januar 2008 wurde das 520 Einwohner  zählende Dorf Otersen im ICC Berlin vor 3.000 Gästen als Bundessieger „Unser Dorf hat Zukunft“ ausgezeichnet.

Oterser Dorfladen-Gesellschafter überreichten 1. Handbuch an Minister Ehlen

Oterser Dorfladen-Gesellschafter überreichten 1. Handbuch an Minister Ehlen

Nach mehreren Jahren mit positiven Jahresergebnissen sank 2008 der Umsatz, weil sich der bisherige Hauptlieferant zunehmend dem Großverbraucher-Service und der Gastronomie zuwandte und vom kleinen Lebensmittel-Einzelhandel abwandte. Die Bedürfnisse der Kunden konnte der Dorfladen so nicht mehr optimal erfüllen. Ausserdem kündigte die Lotto Niedersachsen GmbH vielen Lotto-Agenturen im ländlichen Raum, darunter auch der Lotto-Agentur im Dorfladen Otersen, so dass über 2.500 Euro Provisionserlöse und ein Frequenzbringer verloren gingen. Der Dorfladen geriet wieder in die Verlustzone.

BelaDie Verantwortlichen wollten sich damit nicht abfinden, reagierten prompt und wechselten Ende November 2008 zur Firma Bartels-Langness (Markant, Famila). 2009 stieg der Jahresumsatz gegen den allgemeinen Trend um 9 Prozent an und 2010 werden 300.000 Euro Jahresumsatz voraussichtlich übertroffen werden.

Im Herbst 2009 wurden bei der Gesellschafterversammlung zwei Arbeitsgruppen zur Standort-Frage und zum Thema „Neue Angebote“ gebildet. Weil der Mietvertrag nach dann 10 Jahren am 28.2.2011 ausläuft, stand die Standortfrage im Mittelpunkt. Angestrebt wurde am Standort „Steinfeld 21“ eine Erweiterung, um neue Angebote und ein Dorf-Café realisieren zu können. Leider verliefen die Verhandlungen mit der Eigentümer-Familie nicht erfolgreich. Im Januar und März 2010 wurden Bürgerversammlungen mit jeweils über 100 Einwohnern aus Otersen und Wittlohe durchgeführt und über die Zukunft des Dorfladens beraten. Direkt an der Landesstraße (Ortsdurchfahrt), wenige 100 Meter vom jetzigen Standort entfernt stand das bebaute Grundstück „Steinfeld 9“ zum Verkauf. Das 3.400 qm große Grundstück ist bebaut mit einem kleinen Fachwerkhaus aus dem Jahre 1865 und einem Fachwerk-Anbau aus dem Jahre 2000.

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Im Mai 2010 wurde mit 85 % Zustimmung der Kauf des Grundstücks „Steinfeld 9“ beschlossen und aus Gründen der Rechtssicherheit für die beteiligten Bürger ein wirtschaftlicher Verein, der Dorfladen Otersen w.V. neu gegründet. Der Kaufvertrag wurde geschlossen, Zuschussanträge gestellt, ein Architektenwettbewerb durchgeführt und weiteres Eigenkapital eingeworben. Aktuell hat der Dorfladen Otersen w.V. über 100 Mitglieder, die mehr als 40.000 Euro Eigenkapital in 2010 neu eingebracht haben. Als Vorstandsmitglieder wurden Günter Lühning, Dieter Bergstedt und Inka Prigge-Wursthorn (alle Otersen) gewählt. In den Aufsichtsrat wurden Werner Blank aus Otersen, Elke Deden aus Wittlohe und Bäckermeister Torsten Wöbse aus Kirchlinteln gewählt. Der Dorfladen soll ab 2011 weiterhin von Edith Pape geführt werden. Für das AllerCafé zeichnen ab 2011 Ilse Priemke und Ilona Dirk verantwortlich. Ein engagierter Arbeitskreis trifft bereits die notwendigen Vorbereitungen.

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Die Gesamtkosten für Kauf, Sanierung des Fachwerkhauses und Neubau einer Dorfladen-Erweiterung belaufen sich auf 440.000 Euro. 150.000 Euro Fördermittel der EU, des Landes Niedersachsen und der Gemeinde Kirchlinteln wurden bewilligt. Die Bürger tragen 100.000 Euro Eigenkapital und Eigenleistungen bei und schultern die Zins- und Tilgungsleistungen für 180.000 Euro langfristige Darlehen. Statt Miete werden ab 2011 Zinsen und Tilgungszahlungen fällig. 180 qm Verkaufsfläche im Dorfladen, 10 Parkplätze, das Aller-Café mit Mehrgenerationen-Dorfcafé und Radler-Café auf insgesamt 70 qm Fläche sowie Sommer- und Radler-Terrassen im Außenbereich und 130 qm Wohnraum zur Vermietung im Dachgeschoß sollen bis zum Frühjahr 2011 in Otersen fertig gestellt werden.

Im Sommer 2010 strahlte der Rundfunk-Sender NDR Info eine 30-minütige Reportage über den Dorfladen Otersen und die Realisierung des Zukunftskonzeptes aus. Im Herbst 2010 stellte Dorfladen-Vorsitzender Günter Lühning das Dorfentwicklungskonzept „Leben im Dorf lassen“ vor 150 Teilnehmern einer Fachtagung in Osnabrück vor und war einer von 4 Gesprächsteilnehmern bei einer einstündigen Radio-Live-Sendung von Nordwestradio mit dem Titel „Der letzte macht das Licht nicht aus“.

Richtfest beim neuen Dorfladen Otersen_430

Mitte Oktober 2010 wurde mit vielen Einwohnern Richtfest gefeiert. Im November waren 35 Einwohner im Alter zwischen 16 und 77 Jahren an einem Sonnabend aktiv, um die Dacheindeckung in Eigenleistung auszuführen. Selbst bei 5 Grad minus waren Ende November beim plötzlichen Wintereinbruch über 20 Einwohner aktiv.

Am Nikolaustag 2010 – 10 Jahre nach der „Grundsteinlegung“ und Gründung der Dorfladen-Bürgergesellschaft am 6.12.2000 haben über 50 Einwohner rund 2.000 Stunden Eigenleistungen erbracht und in den Jahren zwischen 2000 und 2010 insgesamt über 100.000 Euro Eigenkapital eingebracht. Als Gegenleistung und Dividende gab es bereits 10 Jahre lang Lebensqualität im eigenen Wohnort und der Erhalt von Infrastruktur und Zukunftsfähigkeit.

„Wir jammern nicht über den Mangel im ländlichen Raum, sondern nehmen unsere Zukunftsfähigkeit selbst in die Hand“ hatten die engagierten Einwohner sowohl im Dorfwettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ sowie in verschiedenen Vorträgen und Interviews für Radio- und Fernseh-Sendungen zum Ausdruck gebracht. Beim bürgerschaftlichen Engagement wird Dorfgemeinschaft gefestigt und Gemeinschaftssinn neu begründet. Schüler und junge Erwachsene werden da ebenso aktiv wie Rentner, da arbeiten alt-eingessene Bürger und Neubürger Hand in Hand, Frauen und Männer engagieren sich …. der Handwerker, der Kaufmann, der Selbständige, die Rechtsanwältin, der Arzt … und viele andere werden GEMEINSAM aktiv. Alle freuen sich auf die feierliche Einweihung im Frühjahr 2011 und haben dann allen Grund zum Feiern: 10 Jahre Dorfladen – Einweihung neuer Dorfladen – Einweihung Mehrgenerationen-Dorfcafé – „von uns für uns“ oder „Wir machen das selbst“ sind keine „Sprüche“ sondern Leitmotiv – Engagierte Bürger aus Otersen und Wittlohe erfüllen diese Sätze immer wieder mit Leben.

Günter Lühning, 1. Vorsitzender Dorfladen Otersen w.V.

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