Am 31.12.2009 haben bundesweit wieder viele kleine Lebensmittel-Einzelhändler geschlossen – in der Regel aus Altersgründen und mangels einer Nachfolge-Regelung. Für viele Einwohner im ländlichen Raum wird es die letzte stationäre Einkaufsmöglichkeit im Dorf gewesen sein. Damit ist vielerorts ein Stück Nahversorgung und Lebensqualität verloren gegangen. Und nicht nur das: “Dass die Immobilienpreise um 20 Prozent fallen, wenn das letzte Geschäft im Ort schließt, zeigt, welche Bedeutung ein Geschäft im Ort hat”, betont Heiner Dippel, Sprecher des Einzelhandelsverbandes Hessen-Nord.Heiner Dippel ist sicher, dass „Dorfläden eine Chance haben, wenn sie neben Lebensmitteln auch Dienstleistungen anbieten und sich zum Dorfzentrum entwickeln“ wurde Dippel im Pressebericht “Dorfladen gegen Discounter” der Frankfurter Rundschau vom 18.8.2009 zitiert.
Zu den letzten dörflichen Nahversorgern, die am Silvestertag für immer die Ladentür verschlossen, zählt in der rund 900 Einwohner zählenden Gemeinde Groß-Häuslingen mitten in Niedersachsen das traditionsreiche Kaufhaus Dreyer. Das Ehepaar Störk schloss aus Altersgründen das von Großvater Gustav Dreyer gegründete Kaufhaus. Neben Lebensmitteln gab es über Generationen auch Eisenwaren, Porzellan, Kohlen, Haushaltswaren und sogar Schuhe im Kaufhaus Dreyer zu kaufen. Das Geschäft in Häuslingen war früher Ausbildungsbetrieb und so mancher Lego-Baukasten, der zu Weihnachten verschenkt wurde, stammte aus dem Kaufhaus Dreyer in Häuslingen. Vor vielen Jahren schloss in Häuslingen bereits das Edeka-Geschäft Hartung an der Hauptstraße. Der örtliche Bäcker und auch das frühere Fleischerfachgeschäft haben ebenfalls schon längst geschlossen. Die Ära der örtlichen Nahversorger, die zusätzlich auch soziale Kontakte im Dorf ermöglichten, ist mit der Schließung des Kaufhauses Dreyer endgültig zu Ende gegangen.
„Ehrlicherweise muss aber auch festgestellt werden, dass die Bürgerinnen und Bürger ihren Laden häufig erst richtig vermissen, wenn er – aus persönlichen oder wirtschaftlichen Gründen – nicht mehr vorhanden ist!“, schrieb Ministerpräsident Christian Wulff 2005 in seinem Grußwort für das Niedersächsische Dorfladen-Netzwerk, das seinen Sitz 5 km von Häuslingen entfernt im Nachbardorf Otersen (Landkreis Verden) hat. Im 520 Einwohner zählenden Dorf Otersen wird mit Erfolg seit fast 9 Jahren der Dorfladen „von Bürgern für Bürger“ betrieben. Bei der Gründung der Bürgergesellschaft brachten die Einwohner am 6.12.2000 insg. 103.000 DM Eigenkapital auf. 70 Bürger als Dorfladen-Gesellschafter betreiben heute die letzte Einkaufsmöglichkeit im Süden des Landkreises Verden. Auf 150 qm Verkaufsfläche werden 2.000 Artikel des täglichen Bedarfs angeboten.
Nach der Schließung des letzten Lebensmittelgeschäftes wird aus „Nahversorgung“ die „Fernversorgung“ im nächsten Aldi-Markt oder im nächsten Supermarkt, zu denen die Dorf-Bevölkerung oftmals 8, 12 oder 15 km weit fahren muss. Hin und zurück kommen da schnell 15 bis 30 km und entsprechend hohe Fahrtkosten zusammen.
Die Fahrtkosten und die Fahrzeit rechnen viele Aldi- und Supermarkt-Kunden aber nicht mit und vertrauen dem „Billig-Image“ der großen Discounter. Merkwürdig nur, das die Inhaber der großen Discounter-Ketten zu den reichsten Deutschen gehören. In den letzten Jahren gab es mehrere Studien über die Preispolitik der Discounter und vermeintlichen „Billigheimer“. Ende November 2009 führte mit der Frankfurter Allgemeine (FAZ) eine der großen Tageszeitungen Deutschlands einen Preisvergleich durch. Die FAZ bildete einen Warenkorb mit 16 gängigen Lebensmitteln und nahm einen Preisvergleich in drei Dorfläden und zwei Supermärkten in Bayern vor. www.dorfladen-netzwerk.de erweiterte den Preisvergleich um einen Dorfladen in Niedersachsen. Das Ergebnis: 35,92 € im Dorfladen – 40,27 € und 34,53 € in den Supermärkten.
Die Fahrt zum Einkaufen und die dafür zurückgelegten Kilometer mit Kraftfahrzeugen wird also immer länger: Die Kilometerzahl für Einkaufsfahrten verdoppelte sich von 1982 bis 2002 von 219 Millionen Kilometer auf 444 Millionen Kilometer – 444 Mio. km am Tag! Quelle: IÖW, Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung.
In Windach südlich von Augsburg ersparen sich die Einwohner diese langen Einkaufsfahrten, brachten 60.000 € Eigenkapital zusammen und eröffneten Anfang 2009 ihren eigenen Dorfladen – den Schloßmarkt in Windach. Zum Einkauf von Lebensmitteln braucht keine Windacher Hausfrau mehr nach Schondorf oder Landsberg zu fahren. Von einigen hörte man schon: „Die 12 km spar’ ich mir künftig.” Oder „Bei einem Einkauf von 50 € machen Fahrtkosten von 5 € ja gleich 10 % aus. Die lasse ich lieber im Ort als auf der Straße.”
Jahr für Jahr steigt die Zahl der Einwohner im ländlichen Raum, die ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen und sich ein gutes Stück Nahversorgung und damit Lebensqualität erhalten wollen. Immer mehr Bürgermeister, Kommunalpolitiker und Bürger wollen sich von den großen Lebensmittel-Ketten und Discountern nicht mehr vorschreiben lassen, wie weit sie zum Einkaufen fahren müssen. Beim Dorfladen „von Bürgern für Bürger“ im niedersächsischen Otersen (Bundessieger 2007 im Dorfwettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“) wird ein stetig steigendes Interesse an diesem Modellprojekt festgestellt. Allein in der Woche vor Weihnachten gab es fünf Anfragen von Bürgergruppen und Gemeinden. Viele Bürgergruppen kamen 2009 zu Besuch nach Otersen: aus Steinau bei Cuxhaven, Dettum bei Wolfenbüttel und Völlringhausen im Sauerland. Neben vielen Bürgermeistern informierten sich auch Landräte und Wirtschaftsförderer von Landkreises beim Niedersächsischen Dorfladen-Netzwerk mit Sitz in Otersen.
Das neue Internet-Portal zur Sicherung der Nahversorgung www.dorfladen-netzwerk.de ging es im Sommer 2009 online, hat in sechs Monaten bereits einen Umfang von über 100 Seiten angenommen und registrierte nur im November über 13.000 Seitenaufrufe. 2010 werden wir in diesem Internetportal weitere Berichte rund um die Sicherung der Nahversorgung im ländlichen Raum veröffentlichen.