„Die Versorgungsdefizite haben sich dramatisch beschleunigt. Schreitet die Entwicklung wie in den vergangenen Jahren fort, werden schon im Jahr 2025 zwischen 40 bis 50 % der Einwohner des Elbe-Weser-Dreiecks in den Ortschaften ohne Lebensmittel-Angebot leben. Der „Markt“ wird für dieses Problem keine Lösungen entwickeln. Deshalb ist politisches und bürgerschaftliches Engagement gefordert“. Zu diesen Ergebnissen kommt Dr. Manfred Steinröx von der gleichnamigen Wirtschafts- und Kommunalberatung aus Hamburg in seiner Langzeitstudie für die Region zwischen Bremen und Hamburg mit insgesamt 780.000 Menschen. 26 Prozent und damit über 200.000 Einwohner in der Elbe-Weser-Region müssen heute bereits ohne Lebensmittel-Versorgung am Wohnort auskommen, in einigen Landgemeinden sind sogar 63 Prozent oder gar 84 Prozent der Bürger negativ betroffen.
Die Untersuchung von Dr. Manfred Steinröx ist bundesweit die einzige Langzeitstudie, die über einen Zeitraum von rund 40 Jahren den Rückzug des Lebensmittel-Einzelhandels aus dem ländlichen Raum dokumentiert. 1973 wurden für die Städte und Gemeinden in den niedersächsischen Landkreisen Cuxhaven, Stade, Osterholz-Scharmbeck, Rotenburg und Verden entsprechende Daten von Reinhold Kolck erhoben. Damals waren zwei Prozent der Einwohner ohne Nahversorgung am Wohnort, 98 Prozent der Einwohner zwischen Weser und Elbe hatten vor 40 Jahren noch ein Lebensmittelgeschäft unmittelbar an ihrem Wohnort. Sogar im unter 200 Einwohner zählenden Dorf Wittlohe im Süden des Landkreises Verden gab es damals noch ein Lebensmittelgeschäft gleich neben der Kirche und die Einwohner konnten alle Zutaten für die täglichen Mahlzeiten vor Ort einkaufen.
Als Manfred Steinröx 1987 seine Dissertation zum Thema Nahversorgung verfasste, hatte sich die Situation schon erheblich verändert: „Knapp 10 Prozent der Einwohner hatten kein Lebensmittelgeschäft mehr am Ort„, ermittelte Manfred Steinröx damals. 2005 erstellte das „Institut für ökologische Wirtschaftsforschung“ (IÖW) im Aufftrag des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen eine 200-seitige Studie zur Nahversorgung im ländlichen Raum. 8 Millionen Bundesbürger in Deutschland seien unterversorgt und die Zahl der täglichen Einkaufsfahrten hatte sich in zwanzig Jahren von 219 Millionen auf 444 Millionen Kilometer täglich, also rund 5 Kilometer pro Bundesbürger täglich, laut IÖW-Studie mehr als verdoppelt.
Mitte Dezember veranstaltete die Deutsche Vernetzungsstelle Ländliche Räume (DVS) und die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung aus Bonn (BLE) in der niedersächsischen Stadt Verden den zweitägigen Workshop „Nah und gut versorgt“. Günter Lühning, Vorsitzender des Dorfladen-Verein Otersen, informierte in seinem Vortrag über den dramatischen Rückgang der Lebensmittel-Einzelhandelsgeschäfte von rund 160.000 Geschäften in den 1970er Jahren auf unter 40.000 Lebensmittelläden in 2011. Im 510 Einwohner zählenden Bundes-Golddorf Otersen im niedersächsischen Landkreis Verden sichern sich die Bürger seit 2001 in Eigenregie die Nahversorgung und die Lebensqualität. Günter Lühning stellte in seinem Vortrag auch die wesentlichen Ergebnisse der Langzeitstudie 1973-2012 von Dr. Manfred Steinröx für den Elbe-Weser-Raum im nord-östlichen Teil Niedersachsens vor.
Durch Befragungen der Städte und Gemeinden in den fünf niedersächsischen Landkreisen zwischen Verden und Cuxhaven und eigene Erhebungen im Sommer 2012 gelangte Dr. Manfred Steinröx zu gravierenden Erkenntnissen über die Nahversorgung im ländlichen Raum zwischen der Metropole Hamburg und dem Oberzentrum Bremen und den vielen Städten und Gemeinden im sogenannten „Speckgürtel“ beider Hansestädte.
„Die Versorgungsdefizite haben sich dramatisch beschleunigt. Der Anteil der Einwohner, an deren Wohnort es keinen Lebensmittel-Einzelhandel mehr gibt, hat sich in vier Jahrzehnten mehr als verzehnfacht. Durchschnittlich 26 Prozent aller Einwohner des Untersuchungsgebietes leben heute in Orten ohne Grundversorgung“, schreibt Dr. Manfred Steinröx und stellte regionale Unterschiede im Untersuchungsgebiet fest.
Im Landkreis Verden (südlich von Bremen) sind durchschnittlich lediglich 16 statt 26 Prozent unterversorgt. Aber auch innerhalb dieses wirtschaftlich starken Landkreises gibt es regional große Unterschiede. In drei der insgesamt 8 Städte und Gemeinden im Landkreis Verden ist die Unterversorgung jedoch größer als im Durchschnitt der gesamten Elbe-Weser-Dreiecks. Während in Ottersberg nur 2 Prozent, in Langwedel nur 6 Prozent und in Oyten am Bremer Kreuz nur 11 Prozent der Einwohner als unterversorgt gelten, sind drei andere Land-Gemeinden negativ betroffen. In der Gemeinde Kirchlinteln werden die 10.200 Einwohner in den 17 Dörfern der flächengroßen Gemeinde von zwei Supermärkten im Grundzentrum und von insgesamt fünf kleineren Lebensmittel-Einzelhandelsgeschäften wohnortnah versorgt. Mit dem „Lintler Laden“ in Bendingbostel (seit 1997) und dem Dorfladen in Otersen (seit 2001) werden zwei dieser fünf kleinen Lebensmittelgeschäfte bereits von Bürgergesellschaften in Eigenregie betrieben. 45 Prozent der Einwohner in der Gemeinde Kirchlinteln, 49 Prozent der Einwohner in der Samtgemeinde Thedinghausen und 63 Prozent der Einwohner in der Gemeinde Dörverden haben keinen Lebensmittelhändler mehr im eigenen Wohnort. In zwei Gemeinden in zwei anderen Landkreisen der Elbe-Weser-Region sind sogar 83 und 84 Prozent der Einwohner von fehlender Nahversorgung betroffen.
„Der Einzelhandel war schon immer ein Maßstab für die Qualität der Lebensbedingungen“ resümiert der Wirtschafts- und Kommunalberater Dr. Manfred Steinröx. In Zeiten des demographischen Wandels mit weniger, aber älteren Menschen im ländlichen Raum werde die Bedeutung der Wohnort-nahen Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs noch größer werden. „Der Markt wird für dieses Problem keine Lösungen entwickeln. Es reicht also nicht, den Wettbewerb zu begrenzen: Weiterreichende Konzepte müssen maßgeschneidert entwickelt werden, um die Nahversorgung (wieder) sicherzustellen. Filialisten und Discounter werden die Versorgungslücken nicht schließen. Deshalb ist politisches und bürgerschaftliches Engagement gefordert„, betonte Dr. Manfred Steinröx und will mit seiner Langzeitstudie die Kommunalpolitik und die Gemeinde-, Stadt- und Kreisverwaltungen für diese Problemstellung sensibilisieren.
Abschließend stellen wir die Pressemitteilung Nahversorgung im Elbe-Weser-Dreieck mit freundlicher Genehmigung von Dr. Manfred Steinröx zur Verfügung.